Ein vielfach ausgezeichneter Schriftsteller ganz nah - José F.A. Oliver gewährte den Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufe 1 einen Einblick in sein Leben und sein Schreiben.

Das Notizbuch hat er stets in der Tasche

Zu einer Lesung mit Werkstattgespräch mit José F.A. Oliver waren die Schülerinnen und Schüler der 12. Klassen der KSH eingeladen. Die Kulturbeauftragte der Schule, Jutta Person, stellte den vielfach ausgezeichneten Schriftsteller dem jungen Publikum vor.

Dieses folgte gespannt Olivers Ausführungen. Der Autor erzählte, wie er zur Entscheidung gelangte, Schriftsteller zu werden, welche Rolle ein Professor an der Uni Freiburg dabei spielte, und warum er mit Gisela Scherer den Hausacher  LeseLenz gründete, der damals mit drei Autoren und 13 Gästen begann.

Wie entstehen seine Gedichte? Aus der Manteltasche zog Oliver ein kleines Notizbuch. Hier trägt er ein paar Worte ein, wenn ihn etwas bewegt oder interessiert. Bleibt sein Interesse an dieser Idee bestehen, wird in einem mehrstufigen Prozess am Ende ein Gedicht daraus. Das geschieht nicht von heute auf morgen. „Manchmal liegen Monate dazwischen, bis ich weiterkomme.“ Einen Monat brauche er, um eine Zeitungskolumne zu schreiben, für einen Essay ein ganzes Jahr.

Dass sie sich Zeit nehmen, verlangt Oliver auch von seinen Leserinnen und Lesern, da sich sonst die Bedeutungsschichten der Gedichte nicht erschließen. „beim überqueren des Indus“ ist ein Gedicht betitelt, das während einer Lesereise nach Pakistan entstand. All das Wissen über die weiteren Flüsse, die in dem Gedicht genannt werden und deren Geschichte mit schweren menschlichen Schicksalen verbunden ist, schwinge mit in diesem Text. Das zu erschließen, erfordere beim Lesen eben Zeit.

Wie gefährlich ein Lyriker übrigens leben kann, erfuhr das gebannte Publikum, als Oliver erzählte, wie er das Ufer des Indus nur unter Begleitschutz zweier mit Maschinenpistolen bewaffneter Männer betreten durfte, um das Risiko einer Entführung zu minimieren.

Auf seine Verwendung von Neologismen angesprochen, erklärt Oliver, ihm habe die Sprache, die zur Verfügung stehe, nicht mehr ausgereicht, um das auszudrücken, was ihn bewege, also habe er begonnen, eigene Wörter zu erfinden. Dass das den Zugang erschwere, wisse er. Wie man auch mit dem Einsatz von Enjambements, also Versbrüchen, Sätzen eine weitere Bedeutung verleihen kann, wurde deutlich bei seiner Antwort auf die Frage, wie er sich für eine bestimmte Form entscheide. „Betrachte die Wörter, und sie erzählen dir Geschichten.“ So sei es etymologisch falsch, aber poetisch fruchtbar, den Blick auf Wörter zu richten, die in anderen mitenthalten sind. Mit einem Doppelpunkt macht er sie sichtbar. So steckt in „gemeinsam“ auch das Wort „einsam“, und so wird in Oliver’scher Manier ein „gem:einsam“ daraus.

Einen konkreten Einblick in den Prozess, wie ein Gedicht entsteht, bot er am Beispiel des Gedichts „heimwärts in Bern“. Er hatte die schon betagte Elisabeth Borchers nach Bern zu einer Veranstaltung begleitet. „Schau, José, die Berge bereiten sich auf Weihnachten vor“, sagte die Lyrikerin und frühere Lektorin beim Anblick der mit Schnee bedeckten Berge. Das war der Satz, den sich Oliver abends notierte und der als Zitat ins spätere Gedicht hinüberwanderte. Mit leuchtenden Augen erzählte die alte Dame vom riesigen Weihnachtsbaum in dem Berner Hotel, in dem sie als Kind mit der Familie die Weihnachtstage zu verbringen pflegte. Wie für diesen bewegenden Moment eine Sprache finden, die anders ist als das, was die Alltagssprache hergibt? So wird aus der Kindheitserinnerung vom lichterglänzenden Christbaum „das licht schnürt den kinderschuh“.

Ob er frühere Gedichte jetzt anders schreiben würde? Oliver anerkennt alle seine Gedichte als Teil einer kontinuierlichen Entwicklung – die früheren Gedichte hätten die auf sie folgenden erst möglich gemacht. Allerdings würde er jetzt anders über dasselbe Thema schreiben, denn hinter demselben Wort stehe nun eine andere Lebensgeschichte, eine andere Zeit. In Zeiten von Klimawandel und steigenden Meeresspiegeln zum Beispiel entstünden beim Blick übers Meer heute andere Gedanken als früher.

Auch der Frage nach seiner Haltung zum Gendern weicht Oliver nicht aus. Er erzählt, wie er als Präsident des PEN-Zentrums Deutschland bei der Wahl einer Anrede für eine Person, die sich als nicht binär definiert, sich also weder als Mann noch als Frau fühlt, geduldig nach einer Lösung gesucht hat. Dadurch vermittelt er eine Haltung, die von Menschenliebe, Toleranz und der Bereitschaft geprägt ist, sich anderen so zuzuwenden, dass diese sich respektiert fühlen. Und er zeigt durch sein Beispiel, dass man keine Angst zu haben braucht vor wichtigen Auseinandersetzungen und vor temporärer Ungewissheit in sich ändernden Zeiten.

Zum Abschluss schenkt er allen Schülerinnen und Schülern eine Postkarte mit seinem Gedicht „gem:einsam“, das während der Coronapandemie entstanden ist. Das Schreiben sei für ihn eine Möglichkeit, „mit mir selber im Dialog zu stehen“. Vielleicht hat die eine oder der andere aus dem Publikum in Zukunft ebenfalls ein Notizbuch in der Jackentasche.